Ein Tierschutzhund zieht ein

Ein Beitrag von Wibke Hagemann

Tierschutzhunde können mit den verschiedensten Vorerfahrungen in ein neues Zuhause einziehen. Manche Hunde meistern den Einzug ganz wunderbar und wirken nach einigen Tagen so, als würden sie seit Monaten bei ihren neuen Menschen leben.

Leider ist dies nicht immer so. Mancher Hund braucht unbedingt Zeit zur Eingewöhnung. Und damit sind nicht ein paar Tage, sondern viele Wochen, wenn nicht sogar Monate gemeint. Diese Hunde haben einen langen Transport oder eine anstrengende Zeit im Tierheim hinter sich. Manche wirken traumatisiert und scheu.

Es gibt Vierbeiner, die bereits nach einigen Tagen im Haus und im Garten offener werden und sich gut in der neuen Situation zurechtfinden. Doch auch hier ist wichtig: In der Ruhe liegt die Kraft!

Für viele Menschen ist der Einzug des Hundes eine langersehnte Erweiterung des Familienlebens und die Freude über den Einzug löst das Bedürfnis nach Aktivität aus. Das ist absolut verständlich, jedoch für den Hund oft viel zu viel.  Was für uns Menschen banal wirkt, kann für die Hunde Herausforderungen darstellen, denen sie nicht gewachsen sind. Aktivitäten wie der Besuch von Freunden, ausgiebige Spaziergänge, Fellpflege, Tierarztbesuche, Treffen auf der Hundewiese und vieles mehr, sollten unbedingt auf später vertagt werden.

Durch Überforderung der Hunde entwickeln sich oft bereits in den ersten Wochen Probleme. Die Hunde sind mit all den neuen Eindrücken überfordert und leiden unter Schlafmangel. Darüber hinaus wird oft nicht erkannt, dass die Hunde unter Ängsten leiden.

Insbesondere, wenn der Hund in alltäglichen Situationen gehemmt wirkt oder ängstliches Verhalten zeigt, sollte sehr behutsam vorgegangen werden.

Was sollte ein Tierschutzhund in den ersten Wochen lernen?

  • Tagsüber entspannt schlafen können und von allein zur Ruhe finden.
  • Angstfrei in Anwesenheit von Menschen fressen können.
  • Von sich aus Kontakt zu seinen neuen Menschen suchen.
  • Angstfrei sein Geschäft erledigen können.

Erst wenn diese wichtigen Grundbedürfnisse täglich erfüllt werden können, kann der Startschuss für etwas mehr Aktivität im Alltag fallen. Doch auch hier ist umsichtiges Vorgehen sehr wichtig. Die Zeiträume der Aktivität sollten kurz sein und keine Angst auslösen. Hilfreich können zum Beispiel sehr kurze Spaziergänge an verschiedenen Orten, positive Gewöhnung an das Auto sowie kurze Trainingseinheiten von wenigen Minuten in bekannter Umgebung sein.

Meine TOP 3 Tipps für die Adoption eines Tierschutzhundes

1) Nehmen Sie sich unbedingt Zeit, den Hund vor der Adoption gut kennenzulernen.

2) Nehmen Sie sich ausreichend lange Urlaub nach der Adoption und planen Sie ein, dass der Hund längerfristig betreut werden muss, wenn Sie arbeiten müssen oder der Hund noch nicht bereit ist mit ihnen zur Arbeit zu gehen.

3) Nehmen Sie frühzeitig Kontakt zu einer Hundeschule auf, die Erfahrung im Training mit Tierschutzhunden hat und gegebenen falls zu Ihnen nach Hause kommen würde.

Mythen über Hunde aus dem Tierschutz

Immer wieder erreichen mich Anfragen, in denen Menschen erwarten, dass ihr neuer Hund innerhalb weniger Tage allein bleiben kann, mit den neuen Hundehaltern zusammenarbeitet oder sozialverträglich mit Menschen und Artgenossen ist. Leider resultieren diese viel zu hochgesteckten Erwartungen aus Pauschalaussagen aus dem Internet.

Schauen wir uns drei dieser Punkte genauer an:

„Tierschutzhunde sind sozialverträglich“

Diese Aussage höre ich leider immer wieder: „Hunde aus dem Tierschutz sind immer sozialverträglich, weil sie im Tierheim mit anderen Hunden zusammengelebt haben“.

Leider hält sich diese falsche Pauschalaussage sehr hartnäckig. Hunde aus dem Tierschutz sind Individuen, genau wie jeder Hund vom Züchter oder aus anderer Herkunft. Die Lebensumstände und die persönlichen Erlebnisse entscheiden darüber, ob ein Hund sozialkompetent ist oder nicht. Die Herkunft sagt in der Regel wenig darüber aus, denn sie ist nur ein Faktor von vielen, die Einfluss auf die Sozialverträglichkeit haben.

Ich habe selbst mehrfach erwachsene Hunde aus dem Tierschutz adoptiert und als Pflegestelle betreut. Keiner dieser Hunde war von sich aus vollkommen sozialkompetent. Die Tatsache, dass ein Hund in einem Gehege mit vielen anderen gelebt hat oder in der Pflegestelle mit anderen Hunden zurechtkam, sagt wenig bis nichts darüber aus, wie dieser Hund zukünftig mit Artgenossen oder Menschen in einem anderen Umfeld sein wird.

Deshalb ist es wichtig, sich darauf einzustellen, dass es Probleme geben könnte und der Hund Zeit und Anleitung braucht Vertrauen aufzubauen und sozialkompetent zu werden.

„Tierschutzhunde können allein bleiben“

Genauso verhält es sich mit dem Alleinsein. In der Regel sind die Hunde, die aus dem Tierschutz adoptiert werden, bereits erwachsen. Allein bleiben zu können, hat aber nichts mit dem Alter des Hundes oder seiner Herkunft zu tun. Hunde sind soziale Lebewesen, die langsam Schritt für Schritt lernen müssen in ihrem neuen Umfeld über einen bestimmten Zeitraum ohne ihre Sozialpartner zu sein.

Die Tatsache, dass der Hund nichts kaputt macht oder lauthals bellt, wenn er allein ist, bedeutet nicht automatisch, dass es dem Vierbeiner gut mit dem Alleinsein geht. Viele Hunde die unter Trennungsstress leiden, laufen suchend durch die Wohnräume oder liegen vor der Tür. Hier ist unbedingt erforderlich den Hund während der Trainingsphase zu filmen und zu überprüfen, was der Hund macht, wenn er allein ist.

Mit einfachen WLAN-Überwachungskameras kann man sicherstellen, dass der Hund nach dem Verlassen schnell zur Ruhe findet und nicht unter Trennungsstress leidet. Das Training benötigt viele Wiederholungen und somit Zeit, daher ist es unbedingt notwendig, dass die neue Familie Urlaub nimmt oder eine Betreuung für die ersten Wochen sicherstellen kann.


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„Tierschutzhunde sind dankbar“

Viele Hunde aus dem Tierschutz haben in ihrer vorherigen Haltung kein Leben in einem Haushalt kennengelernt. Sie können nicht brav an der Leine gehen oder kennen die Zusammenarbeit mit Menschen. Manche möchten sich nicht anfassen lassen oder verteidigen vielleicht sogar Futter gegenüber ihren neuen Menschen.

All das ist ganz normal, denn die Hunde haben die Anforderungen, die an sie gestellt werden, einfach noch nicht gelernt. Kein Hund ist aus Dankbarkeit für seine Rettung gehorsam, teilt ohne wenn und aber sein Futter oder benimmt sich gut, weil er seine Lebensverbesserung zu schätzen weiß. Unsere Vierbeiner müssen die Zusammenarbeit lernen und Gelegenheit bekommen zu verstehen, welche Anforderungen an sie gestellt werden. Das erfordert Geduld auf Seiten des Menschen und individuelles Training.


Fazit: Einen Tierschutzhund zu adoptieren ist immer eine gute Sache, jedoch sollte im Vorfeld genau überlegt werden, ob die zeitlichen Ressourcen ausreichen dem Hund einen guten Start in sein neues Leben zu ermöglichen. Genau wie bei der Anschaffung eines Welpen, benötigt der Tierschutzhund Zeit, Geduld und Training, damit er zu einem tollen Alltagsbegleiter wird. Einen erwachsenen Hund aus dem Tierschutz zu adoptieren macht die Anfangszeit nicht unbedingt leichter. Jeder Hund ist einzigartig und das Produkt seiner bisherigen Lernerfahrungen.

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